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Sunday, November 16, 2014

herta müller. herztier II. [invented worlds]

"Auch in der Stadt standen Maulbeerbäume. Aber nicht auf den Strassen draussen. Sie standen in den Innenhöfen. Und nicht in vielen. Nur in den Höfen alter Leute standen sie. Und unter den Bäumen stand ein Zimmerstuhl. Sein Sitz war gepolstert und aus Samt. Aber der Samt war fleckig und zerrissen. Und das Loch war von unten zugestopft mit einem Bündel Heu. Das Heu war vom Sitzen zusammengepresst. Unter dem Sitz hing es heraus wie ein Zopf. Wenn man bis zu dem ausgemusterten Zimmerstuhl ging, sah man dem Zopf noch die einzelnen Halme an. Und dass sie einmal grün waren.
In den Höfen mit Maulbeerbäumen fiel der Schatten wie Ruhe auf ein altes Gesicht, das auf dem Stuhl sass. Wie Ruhe, weil ich für mich selber unerwartet in diese Höfe ging und nur selten wiederkam. In dieser Seltenheit zeigte sich ein Lichtfaden, der schnurgerade aus der Baumspitze in das alte Gesicht fiel, eine entfernte Gegend. Ich sah an diesem Faden hinunter und hinauf. Mich fröstelte am Rücken, weil diese Ruhe nicht aus den Maulbeerästen kam, sondern aus der Einsamkeit der Augen im Gesicht. Ich wollte nicht, dass mich in diesen Höfen jemand sieht. Dass mich jemand fragt, was ich hier tu. Ich tat nicht mehr als das, was ich sah. Ich sah die Maulbeerbäume lange an. Und dann, bevor ich wieder ging, noch einmal das Gesicht, das auf dem Stuhl sass. In dem Gesicht war eine Gegend. Ich sah einen jungen Mann oder eine junge Frau diese Gegend verlassen und einen Sack mit einem Maulbeerbaum hinaustragen. Ich sah die vielen mitgebrachten Maulbeerbäume in den Höfen der Stadt. [...] 
Was man aus der Gegend hinausträgt, trägt man hinein in sein Gesicht."

Müller, Herta. Herztier. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2007.

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